Der Künstler ist für mich Täter im Sinne eines Handelnden. Die Kunstfreiheit existiert absolut oder gar nicht. Was bedeutet das? Der Künstler als Handelnder befindet sich dank der Kunstfreiheit zwangsläufig in einem Spannungsverhältnis zu Staat und Gesellschaft, weil er als frei Handelnder aufgrund der Tatsache, dass Kunstfreiheit nur als Absolutes gegeben ist, außerhalb aller Gesetze und Normen steht, genauer: stehen muss. Niemand kann dem Künstler die Kunstfreiheit erlauben, sie ihm schenken oder ihn gar zur Kunstfreiheit ermächtigen - der Künstler setzt die Kunstfreiheit selbst in dem Moment, indem er künstlerisch handelt. Das bedeutet andererseits auch, dass kein Staat der Welt, welchen politischen Systems auch immer, mich vor dem Verlust der Kunstfreiheit beschützen kann. Wie die Historie zeigt, sind aber auch umgekehrt alle Versuche, die Kunstfreiheit zu zensieren, langfristig zum Scheitern verurteilt.
Ist die Kunst einmal in der Welt, in den Herzen und Köpfen anderer Menschen, kann die Zensur Bücher und Bilder verbrennen, Künstler wegschließen oder ermorden - die künstlerischen Arbeiten selbst haben dann schon lange ein Eigenleben unabhängig von ihrem Urheber begonnen, notfalls „rhizomatisch“ im Verborgenen.
Weil die Kunstfreiheit jedoch eine absolute Freiheit ist, bin ich als Künstler gleichzeitig gezwungen, mich über gesellschaftliche Normen und deren aktuelle Gesetze dann hinwegzusetzen, wenn das Werk dies verlangt. Gleiches gilt für Moden, Sitten oder weitverbreitete Geschmacksmuster. Dies macht den Künstler in der Folge deshalb immer auch zu einem potentiell Verdächtigen, zum möglichen Täter im juristischen Verständnis des Wortes.
Was die Kunst „darf“ und was nicht, entscheidet nur der Künstler selbst im Akt des Hervorbringens und der Setzung der jeweils konkreten Manifestation von Kunstfreiheit und dieser konkrete Akt bestimmt immer wieder neu die „Grenzen“ der Kunst in diesem ganz individuellen Sinn.
„Ethik und Ästhetik sind Eins“ bemerkte Wittgenstein eingeklammert im „Tractatus“ völlig zu Recht und meine Überzeugungen, mein Inneres, mein Bild der Welt sind meine jeweils individuellen Voraussetzungen und damit die Perspektive, mit der ich als Handelnder in den Möglichkeitsraum der Kunstfreiheit eintrete. Ergo: Für meine Kunstfreiheit braucht niemand auf die Straße zu gehen und niemand kann sie mir nehmen.
Se ipsum II (Der Künstler als Täter)
Tankred Tabbert
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